Freitag, 23. August 2013

Interview mit einem ehemaligen Straßenkind



Mein Liebling, meine Liebe.
Die Liebe, die ich für dich empfinde,
ist sehr groß, 
dein Lächeln lässt mich diese Liebe fühlen. 
Du bringst Licht in mein Leben.

Oh! Du Goldstück, 
dich glücklich zu sehen ist, 
was ich möchte, 
du bist der Einzige. 

Liebling, du bist mein Stern, 
du bringst Leuchten in mein Leben. 
Deine Anwesenheit spüre ich von fern, 
mit dir zu sein ist, was ich möchte.


Einleitung
In meinem Bericht geht es um die Straßenkinder Boliviens. Hierfür habe ich ein Interview mit einem ehemaligen Straßenkind namens Claudia geführt, um so ein konkretes Beispiel mit den Hintergründen, all den „Hochs“ und „Tiefs“, Gedanken und Ängsten nahebringen zu können. Anhand des Beispiels von Claudia gehe ich im Allgemeinen auf die Themen ein, die bezüglich der Straßenkinder Boliviens eine Rolle spielen.
Warum ich mich für dieses Gedicht auf der Titelseite entschieden habe?! Es gibt einen Grund warum Claudia nicht mehr auf der Straße lebt und Drogen konsumiert - dieser Grund ist ihr Sohn.

Bolivien
Die Berichte über die regionalen Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen schließen stets auch Informationen über die soziale und politische Situation des jeweiligen Landes ein.
Bolivien ist das exportschwächste Land Südamerikas, zwei Drittel der Bevölkerung leben in Armut, 40% in extremer Armut. 10% der Bevölkerung verfügen über 40% des Gesamteinkommens. Nach einer Definition der Weltbank lebt eine Person in absoluter (extremer) Armut, wenn sie weniger als einen Dollar am Tag zur Verfügung hat. Die Ursachen für die Missstände in Bolivien sind vielschichtig und lassen sich auf die Geschichte des Landes, seine geographische Lage und seine geopolitischen Situation zurückführen. Als ehemaliges Kolonialland Spaniens begann die Ausbeutung der bolivianischen Bodenschätze schon vor 500 Jahren. Im Jahre 1825 befreite Simon Bolivar das Land aus der Schreckensherrschaft der Kolonialherren. In den folgenden 100 Jahren versuchte sich der junge Nationalstaat in mehreren Kriegen gegen seine Nachbarn Chile, Paraguay und Brasilien zu behaupten. Jeder dieser Kriege wurde verloren und war mit Gebietsverlusten und dem besonders schmerzlichen Verlust des Meerzuganges verbunden.
Im zwanzigsten Jahrhundert versuchte die USA ihren Einfluss in der Region zu erhöhen. Dazu unterminierte sie die Revolutionsbemühungen von Che Guevara und unterstützte Bolivien beim Kampf gegen den Drogenanbau. Gleichzeitig versuchten ausländische Unternehmen die Bodenschätze auszubeuten ohne das Volk an den Gewinnen teilhaben zu lassen. Diese Zustände wurden erst durch jahrzehntelange innenpolitische Instabilität, Korruption und Vetternwirtschaft möglich.
Nach dem Niedergang des Bergbaus sind die westlichen Regionen des Landes (Chuquisaca, Cochabamba, Oruro, La Paz und Potosí) zusehends verarmt, während die östlichen Teile (Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija) durch die Erschließung von Öl- und Gasvorkommen sowie durch industrialisierte Land- und Forstwirtschaft einen ansehnlichen Wohlstand erreichen konnten. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat die Bevorzugung transnationaler Unternehmen die Spaltung des Landes in zwei Teile noch verschärft: Ein kleiner Teil der Bevölkerung arbeitet im Exportsektor und hat an dessen Dynamik teil, die Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung findet jedoch keine Beschäftigung, denn die heimische Wirtschaft stagniert.
In den letzten Jahren versucht Präsident Evo Morales mit seiner linksgerichteten Partei MAS (Movimiento al Socialismo) die Ressourcen des Landes wieder gerechter zu verteilen. Dazu wurde die staatliche Kontrolle über den Rohstoffabbau ausgebaut, die Exportsteuern auf Rohstoffe erhöht und Unternehmen teilweise sogar komplett verstaatlicht. Die für den Export wichtigsten Rohstoffe Boliviens sind Erdgas, Zinn und Zink.
2006 wählte das Volk eine verfassungsgebende Versammlung. Die dabei geführten Auseinandersetzungen zeigten die Spaltung des Landes in die vier östlichen Departementes des „Media Luna" oder „Oriente" auf der einen Seite, in denen sich die Bevölkerung für die Einführung einer föderalen Staatsstruktur mit regionaler Autonomie aussprach, und den fünf westlichen Departementes des Hochlandes auf der anderen Seite, wo Autonomiebestrebungen abgelehnt und für die Beibehaltung eines zentralistischen Staates votiert wurde. Nach verschiedenen Zugeständnissen der Regierung wurde der Verfassungsentwurf am 25. Januar 2009 mit deutlicher Mehrheit vom bolivianischen Volk angenommen. Am 6. Dezember 2009 wurde Morales letztmalig für weitere fünf Jahre ins Amt des Präsidenten gewählt.
Viele Bolivianer sagen seitdem Evo Morales zum Präsidenten gewählt worden ist, hat der Drogenkonsum zugenommen. Als ehemaliger Koka-Bauer fördert er vor allem seinesgleichen. Die Produktion endet anscheinend nicht bei den Kokablättern in Form von Kräutern. Die Weiterverarbeitung scheint ein sehr lukratives Geschäft zu sein. Dies fällt zum Beispiel in Chapare auf, wo jeder Bauer mindestens eine riesige Satellitenschüssel und neben seinem Auto ein Motorrad besitzt. Unter dem Salzsee Salar de Uyuni werden riesige Mengen Lithium vermutet. Diesem Metall könnte bei der Entwicklung der Elektroautos eine besondere Rolle zukommen. Diesen Vorteil möchte sich Bolivien nicht nehmen lassen und versucht das Metall in Eigenregie abzubauen.
Da es bei einer gerechteren Verteilung der Ressourcen nicht nur Gewinner gab, versuchen die reicheren Landesteile sich von den ärmeren abzuspalten. Diese Autonomiebestrebung ist eine weitere Herausforderung der derzeitigen Regierung und zeigt, dass Bolivien noch nicht am Ende seiner bewegten Geschichte ist (Weber, 2011; terre de hommes).

Globalisierung 
Straßenkinder sind ein Phänomen der Armut. Weltweit wächst die Verelendung. Manche behaupten, die Zunahme der Zahl obdachloser Kinder und Jugendlicher der Straße, die man vor allem in den armen Ländern der Erde beobachtet, sei eine der Folgen des Globalisierungsprozesses. Globalisierung - ein Prozess, der mit einem bemerkenswerten Bedeutungs- und Machtverlust der Nationalstaaten einhergeht. Der Welthandel blüht. Es gibt immer mehr Kooperationen zwischen international agierenden Unternehmen, und eine schwindelerregende Globalisierung der Finanzmärkte, bringt die Weltgemeinschaft an den Rand einer Katastrophe. Die Marktöffnung in den Schwellenländern führte dort zu einem tiefgreifenden Strukturwandel und zum Verschwinden vieler Branchen, die global nicht konkurrenzfähig waren. Die Entwicklungsländer sehen sich vom Globalisierungsprozess, zumindest von seinen Segnungen, weithin ausgeschlossen und sind noch unausweichlicher ihrer Rückständigkeit verhaftet. Ihre Abhängigkeit von oft nur einem Rohstoff, fesselt sie an die Schwankungen des Weltmarktpreises.
Globale Netzwerke von Menschenhändlern und Schlepperbanden sorgen dafür, dass Mädchen und Jungen, über Ländergrenzen hinweg, verkauft werden. So werden zum Beispiel Kinder aus Laos und Burma nach Thailand; aus Südostasien nach Europa und Nordamerika; und aus Osteuropa nach Westeuropa verschleppt. Weltweit werden mit dem Menschenhandel viele Milliarden Dollar umgesetzt.
Die Auswirkungen der Globalisierung auf das Wohlergehen der Menschen sind umstritten. Es ist fraglich, ob die Globalisierung Armut und Unterentwicklung bedingt und verstärkt oder ob sie so viel neuen Reichtum hervorbringt, dass am Ende auch die armen Länder davon profitieren (Weber, 2009).

Straßenkinder
Definition
Innerhalb des Straßenkinder-Diskurses konnte man sich bislang auf keine allgemeingültige Definition einigen. Generell bezieht sich der Begriff auf "Kinder und Jugendliche, deren Lebensmittelpunkt die Straße bildet" (Butterwegge 2004, S.128). Eine weitere Orientierung bietet derselbe Autor im Blick auf Straßenkinder in Deutschland, Bolivien und Chile: Straßenkinder seien "Kinder und Jugendliche, die in einem Zeitraum bis zum Alter von 18 Jahren auf der Straße gelebt haben; Kinder und Jugendliche, für welche die Straße als primärer Sozialisationsort dient, was mit einer Abkehr von der Familie oder diese ersetzende Institutionen einhergeht; Kinder und Jugendliche, die zeitweise von einer faktischen Obdachlosigkeit betroffen sind oder waren, und zwar in dem Sinne, dass dauerhaft kein eigener Wohnraum von ihnen genutzt wird oder wurde. Sie leben überwiegend im öffentlichen Raum, eine Privatsphäre besteht oder bestand somit nicht. Ihre Hauptbezugsgruppe bilden die "Freunde" auf der Straße (Butterwegge 2004, S.129/130).
Die Untersuchung kolumbianischer Straßenkinder des Instituto Colombiano de Bienestar Familiar, aus dem Jahr 2006 (veröffentlicht 2007), legt ähnliche Kriterien zugrunde: "Niños, niñas y adolescentes en situación de calle" (Jungen, Mädchen und Jugendliche, die sich auf der Straße befinden) sind demzufolge jünger als 18 Jahre; sie sind der familiären Einflusssphäre entzogen, d.h. sie haben keinen oder nur sporadischen Kontakt zu ihren Familien; sie haben eigene Überlebensstrategien entwickelt; sie streifen umher, entweder innerhalb einer Stadt oder zwischen Städten; sie stehen außerhalb des Bildungssystems, d.h. sie besuchen keine Schule; sie schlafen alleine oder in "galladas" (Gruppen), in Wohnheimen oder auf der Straße. Dabei werden auch diejenigen Kinder und Jugendlichen in die Definition miteinbezogen, die sich aktuell in einer Einrichtung befinden und zuvor die genannten Kriterien erfüllt haben.
Die Problematik des Begriffs liegt auf der Hand. Ein großer Teil der "Straßenkinder" sind eigentlich "Straßenjugendliche", denen durch die Bezeichnung "Kinder" eigenverantwortliches Handeln abgesprochen wird (Butterwegge 2004, S. 128).

Straßenkinder allgemein
Straßenkinder sind in der Regel Stadtkinder. Sie sind in den sich industrialisierenden Schwellenländern und in den Ballungsräumen weitaus häufiger anzutreffen als in ländlichen Regionen.
Normalerweise durchläuft ein Kind unterschiedliche Stationen der Sozialisation: Familie, Kindergarten, Schule, Freundeskreis, Berufsausbildung, Berufsleben. Bei Straßenkindern reduzieren sich diese Stationen auf gescheiterte Erfahrungen in der Familie. Die Straße wird zum Ort der Sozialisation. Auf der Straße zu leben bedeutet, ständig unter Spannung zu stehen. Die Kinder haben keinen Rückzugsbereich oder geschützten Raum. Sie sind Gewalt, Drogen, Kriminalität und Willkür von Erwachsenen ausgesetzt. Von der Gesellschaft werden sie diskriminiert und ausgegrenzt: Kaum ein Straßenkind geht in die Schule oder wird regelmäßig medizinisch versorgt. Trauen sie sich in ein Krankenhaus, werden sie nicht selten schlecht behandelt oder wieder weggeschickt. Auch wenn manche Straßenkinder zeitweise über größere Mengen Geld verfügen können, fehlt es fast allen an gesundem Essen und sauberem Wasser. „Es ist, als würdest du um dein Leben kämpfen“, erzählt ein Straßenkind aus Bolivien. „Wenn du es nicht verteidigst, überlebst du nicht. Es ist der tägliche Krieg.“
Straßenkinder leben von der Hand in den Mund, halten sich mit legalen und illegalen Tätigkeiten über Wasser. Um sich behaupten zu können, übernehmen die Kinder oft auch die Verhaltensweisen von Erwachsenen aus dem Straßenmilieu: Sie »organisieren« Geld durch gewaltsamen Diebstahl, durch Prostitution und Drogenhandel. Straßenkinder sind dadurch extremen Risiken ausgesetzt, viele von ihnen sind selbst drogenabhängig. Häufiger sind es die Kinder selbst, die sich entschließen, den Kontakt zu den Familien abzubrechen, meist in Reaktion auf Gewalt und Missbrauch, und häufig nach Zyklen der Flucht und erneuter Rückkehr bzw. nach Heimaufenthalt. Der Weg auf die Straße hat also wenig mit jugendlicher Unternehmungslust zu tun, sondern ist die Entscheidung eines Kindes, das
keine Alternative mehr sieht. Wo sich feste Gruppen und Bezugsysteme von Straßenkindern gebildet haben, fällt die Flucht auf die Straße leichter. Gegenseitige Hilfe und oft bandenähnliche Zusammenarbeit tragen dazu bei, den Gefahren auf der Straße zu trotzen. Bei diesen Gruppen kann man bereits von einer Subkultur sprechen, es ist vielmehr als das Nehmen einer Droge. Sie haben ihre eigenen Werte, Normen, Regeln und Bräuche, selbst ihre eigene Sprache. In diesen Gruppen wiederholen sich jedoch nicht selten die zu Hause erlebten Muster der Gewalt, insbesondere zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Anführern und »Fußvolk«. Bei den älteren können – meist kurzfristige – Paarbeziehungen entstehen. Trotz extrem hoher Raten von Abtreibungen und Kindersterblichkeit kommt es zum Phänomen der »zweiten Generation« derjenigen Kinder, die auf der Straße geboren werden und dort aufwachsen.
Straßenkinder sind zumeist öffentliches Ärgernis, dem mit ordnungspolitischen Maßnahmen (zwangsweiser Heimunterbringung, Polizeirazzien, Vertreibung von öffentlichen Plätzen) begegnet wird. Wenn beispielsweise wichtiger Besuch ansteht oder das Bedürfnis der Polizisten aufkommt, die Straßenkinder einfach nur zu belästigen, werden sie auf ein Auto geladen und außerhalb der Stadt gebracht. Dort werden sie dann irgendwo ausgesetzt und müssen meist stundenlang zurücklaufen. Es gab jedoch auch schon Vorfälle, dass sie von den jeweiligen Bewohnern fast zu Tode geprügelt worden sind, so dass die Polizei sie wieder abholen und nach Cochabamba bringen musste. Mancherorts werden sie gezielt durch Prügeleinsätze der Polizei verfolgt. Vielerorts sind sie Opfer von Missbrauch, werden vergewaltigt oder zu Diebestouren erpresst. Fast täglich führen die Polizisten dort Kontrollen durch, wo die Straßenkinder leben. Auf meine Frage hin, was sie denn kontrollieren würden, grinste der Polizist nur und meinte: „Die Jungs wissen schon Bescheid.“ Was nämlich kontrolliert wird, ist der Inhalt ihrer Portmonees, der dann den Besitzer wechselt. Leider gibt es jedoch immer wieder Kinder, die ihren „Besitz“ nicht hergeben möchten. Daraufhin sieht die Polizei sich wohl gezwungen Gewalt einzusetzen und zwar so, dass die Jungs dann mit blauen Augen anzutreffen sind. Nicht selten ist es bei den Mädchen zu sexueller Gewalt gekommen. Die Öffentlichkeit weiß Bescheid, jedoch kann keiner etwas dagegen unternehmen, da oft selbst die „hohen Tiere“ daran beteiligt sind. Es gibt jedoch auch Cochabambinos, die nichts von all dem wissen, weil sie jeglichen Kontakt zu den Straßenkindern meiden, da sie gefährlich seien. Selbst die Straßen, in denen sie sich aufhalten, werden gemieden, so dass es Reiche aus dem Norden gibt, die sich nicht einmal ins Zentrum begeben. Allerdings können Straßenkinder auch Objekte wohltätigen Mitleids sein. Nicht selten kommen die „Reichen“, die ihr Herz erleichtern wollen und den Straßenkindern jegliche Dinge mitbringen, wie Klamotten, Spielzeug oder Essen. Wozu dann noch arbeiten gehen, wenn immer jemand da ist, der einen versorgt?!
Unter anderem sind sie Gegenstand von selbstkritischen Reflexionen einer Gesellschaft über die Ursachen, die die Kinder auf die Straße getrieben haben, aber auch über ihre, von den Kindern gebrochenen, Normen und Regeln. „Sie tun vor aller Augen, was manches anerkanntes Mitglied der Gesellschaft im Verborgenen tut“, sagt der Jesuitenpater Jorge Vila vom bolivianischen Kinderschutzbund DNI. Straßenkinder haben keine Hemmungen, denn schließlich ist die Straße ihr zu Hause und es ist doch nichts abwegiges, dass man sowohl sein Geschäft zu Hause verrichtet als auch Geschlechtsverkehr dort hat.
Straßenkinder sind bisweilen apathisch, bisweilen aggressiv. Sein eigenes Zuhause oder ein Heim zu verlassen und auf die Straße zu gehen erfordert aber auch Initiative und Mut. Der Überlebenskampf auf der Straße zerstört Körper und Seele, jedoch fördert er auch bestimmte Tugenden wie Schnelligkeit, Einfallsreichtum und Eigenverantwortlichkeit, auch Sinn für Solidarität, Humor und kritischen Geist. Je länger die Kinder auf der Straße leben, desto schwieriger die Rückkehr in die Familie bzw. der Übergang in ein selbstständiges Leben jenseits der Straße.
Das Leben der Straßenkinder in Cochabamba, der drittgrößten Stadt in Bolivien, ist hart. Von ihren Familien verlassen, versuchen sie sich als Schuhputzer, als Ausrufer in Bussen oder einfach als Bettler. Sie schlafen überall dort, wo es halbwegs warm ist, in Parks, unter Brücken oder in Hauseingängen. Viele der Straßenkinder schnüffeln Kleber oder rauchen Marihuana, um das Leben erträglicher zu machen. Schnell merken sie, dass es leichter ist zu stehlen, als zu arbeiten. Sozial verwahrlost und ohne Schulbildung stehen sie in der bolivianischen Gesellschaft chancenlos dar (terre de hommes).

Zahlen und Fakten
Verlässliche Angaben über die Anzahl der Straßenkinder weltweit gibt es nicht. Eine Größenordnung des Phänomens geben jedoch Schätzungen von UNICEF und WHO, die von »mehreren Zehn-Millionen«, bzw. über 30 Millionen Straßenkinder weltweit ausgehen, eine Zahl, die bei einer engen Definition von obdachlosen alleinstehenden unter 18-Jährigen vermutlich deutlich zu hoch gegriffen ist. Wenn im Weltdurchschnitt je ein von tausend Kindern auf der Straße Leben würde, läge die Gesamtzahl gerade einmal bei um gut drei Millionen. Die schwierige Datenlage erklärt sich unter anderem dadurch, dass nur wenige Straßenkinder eine Geburtsurkunde haben und dass die Zahlen jahreszeitlich fluktuieren. Vor allem aber ist die Zahl unklar, weil Straßenkinder von staatlichen Institutionen wie Schule oder Fürsorge in der Regel nicht erfasst werden. Private Institutionen und Projekten fehlt wiederum häufig der Gesamtüberblick. Die Daten variieren auch je nachdem, wie der Begriff »Straßenkind« definiert wird: Viele Schätzungen fassen die Gruppen der auf der Straße arbeitenden und in ihrer Familie wohnenden Kinder einerseits und die obdachlosen Straßenkinder andererseits zusammen, da der Übergang zwischen dem Arbeitsplatz Straße und dem Lebensmittelpunkt Straße oft fließend ist. Sie kommen damit zu der wesentlich höheren Anzahl von 100 Millionen Straßenkindern weltweit. Das Consortium for Street Children, ein Zusammenschluss zumeist englischer Organisationen, weist darauf hin, dass die Zahlen mehr die Wahrnehmung und das Verständnis des Problems, als die tatsächliche Dimension der Problematik wiedergeben.
In Bolivien geht UNICEF von circa 3.700 Kindern und Heranwachsenden auf der Straße aus. In Cochabamba liegt die Zahl bei etwa 850 Kindern und Jugendlichen (terre de hommes).

Ursachen und Hintergründe
Die Gründe, warum ein Kind auf der Straße lebt, sind individuell und regional verschieden. Wäre es nur die Armut, müsste die Zahl der Straßenkinder weit höher sein. Innerfamiliäre Gewalt und bei Mädchen insbesondere sexueller Missbrauch sind zumeist der Auslöser dafür, dass Kinder die Familien verlassen. Folgende Faktoren beschleunigen jedoch die Auflösung familiärer und nachbarschaftlicher Netze, die Kinder in Krisensituationen auffangen könnten. Soziale Ungleichheit: Der steigende Wohlstand kommt nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zugute. Für viele arme Haushalte stagniert das Haushaltseinkommen seit Jahren. Die Situation von Kindern und Jugendlichen ist von enormen sozialen Ungleichheiten geprägt, die durch die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der ethnischen Zugehörigkeit noch verstärkt werden. Der Großteil der Kinder und Jugendlichen hat keinen Zugang zu qualitativ hochwertigen Bildungsangeboten. Infolge der schlechten Schul- und Berufsausbildung haben viele junge Menschen aus armen Familien zudem wenig Chancen, eine qualifizierte Beschäftigung zu finden. Die geringen Beschäftigungsmöglichkeiten führen zudem zu einer hohen Auswanderung in Nachbarstaaten. Kinder und Jugendliche sind davon in besonderem Maße sowohl als Auswanderer, als auch als Zurückgebliebene betroffen. Durch die Arbeitsmigration geht häufig der Zusammenhalt innerhalb der Familie verloren, mit weitreichenden Folgen für die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Die für eine Integration in die Gesellschaft notwendigen Werte und Normen können durch das Fehlen eines funktionierenden familiären Umfelds nur schwer vermittelt werden. Zudem haben die fehlende emotionale Geborgenheit, Vernachlässigung durch überforderte Mütter und das Fehlen männlicher Rollenvorbilder starken Einfluss auf gewalttätige Handlungen von jungen Menschen gegenüber ihren Altersgenossen.
Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich: Noch nie war der Gegensatz zwischen Arm und Reich auf der Welt größer als heute. Etwa 64 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Arm sein heißt, ausgeschlossen sein von den Ressourcen, die anderen verfügbar sind. Das verursacht Frustration und Hoffnungslosigkeit. Es kommt zu Alkoholmissbrauch und innerfamiliärer Gewalt. In einer Studie über Straßenkinder in den vier größten Städten Boliviens geben zwei Drittel der befragten Kinder an, ihre Familie verlassen zu haben, weil sie misshandelt wurden. Die Anzahl der Straßenkinder in Bolivien war in den 90er Jahren, in der Zeit der wirtschaftlichen Liberalisierungsprogramme, von wenigen hundert auf mehrere tausend gestiegen.
Nahezu alle Untersuchungen zeigen, dass etwa ein Drittel der Straßenkinder Mädchen, zwei Drittel Jungen sind. Mädchen finden schneller eine Unterkunft, in dem sie zum Beispiel als Hausmädchen arbeiten. Sie sind zwar fern der Straße, oft aber ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und sexuellen Übergriffen ausgeliefert. Auch auf den Straßen erleben die Mädchen patriarchale Gewaltverhältnisse und häufig sexuellen Missbrauch. Besonders problematisch wird ihre Situation, wenn sie schwanger werden (terre de hommes).

Der Weg zurück ins Leben – Die Geschichte eines Straßenkindes aus Cochabamba
Claudia ist heute 23 Jahre alt und lebt in Cochabamba. Vom Erscheinungsbild wirkt sie älter, dafür sind das Leben auf der Straße und der Drogenkonsum verantwortlich. Anhand ihrer Narben im Gesicht weiß man, dass sie viel durchgemacht hat. Wenn man sie anschaut, hat sie jedoch immer ein Lächeln in ihrem Gesicht, so dass sie gleich sympathisch wirkt.
Claudia ist in Cochabamba bei ihrem Vater aufgewachsen. Ihre Mutter starb als sie fünf Monate alt war, was ausschlaggebend für den Alkoholkonsum ihres Vaters war. Sie hat mehrere Geschwister, die jeweils von anderen Frauen sind, daher kennt sie nur einen ihrer Brüder und zwar das älteste Kind des Vaters, das jetzt ungefähr 48 Jahre alt ist. Zu diesem hat sie jedoch keinen Kontakt mehr, da sie nicht einmal weiß wo er wohnt. Claudia selbst hat zwei Söhne, die jedoch beide nicht mehr bei ihr leben.
Im Vergleich zu vielen Kindern, deren Alltag von Gewalt geprägt ist, sagt sie selbst, dass sie trotz des Alkoholkonsums ihres Vaters eine schöne Kindheit genießen konnte.

Gewalt 
Kinder und Jugendliche sind der Gewalt meist schutzlos ausgeliefert. Sie erfahren Gewalt im häuslichen Umkreis (Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft), als Opfer von Jugendbanden und im Rahmen von gewaltsamen Konflikten, wie zum Beispiel Bürgerkriegen. Doch Kinder und Jugendliche sind nicht nur Opfer von Verbrechen und Gewalt, sie sind an vielen Gewalttaten auch aktiv als Täter beteiligt. In Lateinamerika ist die Jugendgewalt eine zentrale Bedrohung für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit. Weltweit werden durchschnittlich 11 von 100 000 Menschen gewaltsam getötet. In Lateinamerika ist die Homizidrate jedoch mehr als dreimal so hoch – 36 auf 100 000 Menschen; es ist die gewalttätigste Region der Welt. Gewalttätige Übergriffe mit Todesfolge sind vor allem in Großstädten üblich. Etwa 80% der Verbrechen werden dabei von Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren begangen. Kinder und Jugendliche als Opfer leiden stark unter den körperlichen und seelischen Folgeschäden von Gewalt. Neben gesundheitlichen Folgeschäden müssen sie mit einer Vielzahl von psychologischen Schäden, wie zum Beispiel Alkohol- und Drogenmissbrauch, Depression und Angstzustände, Ess- und Schlafstörungen, gewalttätige und kriminelle Verhaltensweisen, geringes Selbstwertgefühl und psychosomatische Störungen umgehen. Dazu kommen Folgewirkungen, wie höheres Sterblichkeitsrisiko und geringere Lebenserwartung durch Krankheiten und Unfruchtbarkeit. Verbrechen und Gewalttaten sind nicht nur Ursache für die hohen Todesraten und persönliches Leid der Menschen. Sie belasten auch in hohem Maße die öffentlichen Haushalte und beeinträchtigen somit das Wirtschaftswachstum. Die wirtschaftlichen und sozialen Kosten von Verbrechen und Gewalt sind hoch. Eine Studie der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IADB) beziffert den wirtschaftlichen Schaden mit 16,8 Mio. US $, was 14,2 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Region entspricht. Soziale Kosten, wie zusätzliche Gesundheitskosten, zusätzliche Belastung der öffentlichen Verwaltung und Kosten für private Sicherheit machen weitere 4,9 % des BIP aus (Marquez, 2011).

Claudia hatte die Möglichkeit die Schule zu besuchen und musste nicht wie viele andere Kinder in Bolivien arbeiten gehen, da ihr Papa aufgrund seiner Arbeit für ihren Lebensunterhalt sorgen konnte. Er hat auf dem Bau gearbeitet. Wenn man in Bolivien keinen festen Arbeitsplatz hat, kann man auf der „cancha“ (Straßenmarkt in Cochabamba) seine Arbeitskraft anbieten. Denn täglich gibt es Firmen, die für einen oder auch mehrere Tage dringend Unterstützung brauchen und sich diese Unterstützung von der „cancha“ holen. Dadurch, dass Claudias Vater gearbeitet hat, war sie im Alltag mehr oder weniger auf sich selbst gestellt.
Die wirtschaftliche Situation vieler Familien in Cochabamba zwingt oft beide Elternteile den ganzen Tag über arbeiten zu gehen und so ihre Kinder alleine zu Hause zu lassen, manchmal mit älteren Geschwistern, die auf sie aufpassen oder mit dem Fernseher. Der familiäre Zusammenhalt wird dadurch geschwächt. Zudem erfahren die Kinder weder Schutz, Sicherheit noch Zuneigung vonseiten ihrer Eltern (Marquez, 2011).
Claudia war den ganzen Tag allein zu Hause, hat selbst für sich gekocht und meistens nachts ihre Hausaufgaben gemacht, die keiner kontrolliert hat. „Dies war jedoch kein Problem für mich, da ich eine gute Schülerin gewesen bin.“ Später wurde es eingeführt, dass man beim Besuch einer Schule seine Geburtsurkunde vorweisen musste. Es gibt jedoch immer noch etliche Einwohner Boliviens, die keine besitzen. So auch im Falle von Claudia. Obwohl sie den Wunsch hatte zu studieren, musste sie aufgrund dessen die Schule abbrechen.

Bildung 
Durch die Erhöhung sozialer und wirtschaftlicher Standards konnte die Situation der Grund- und Sekundarbildung verbessert werden. Trotz der verbesserten Bildungssituation bestehen nach wie vor große regionale Unterschiede bezüglich Qualität und Einschulungsraten. Der Schulbesuch ist eng mit dem Familieneinkommen verknüpft. Reiche Familien schicken ihre Kinder auf teure, qualitativ hochwertige Privatschulen, wohingegen arme Menschen oft nur den Besuch einer einfachen Grundschule finanzieren können. In ländlichen Regionen sind die Möglichkeiten, am formalen Bildungssystem teilzunehmen, wegen fehlender Infrastruktur zudem oft sehr begrenzt. Darüber hinaus sind schlecht qualifizierte und unterbezahlte Lehrkräfte, fehlende oder veraltete Unterrichtsmaterialien Ursachen für qualitativ schlechten Unterricht. Durch die mangelhaften Schulbedingungen, die zudem keine Perspektive eröffnen, bleiben viele Kinder dem Unterricht fern. Des Weiteren müssen sie oft während der Schulzeit arbeiten, um das Familieneinkommen aufzustocken.

Mit Claudias Pubertät im Alter von 14 Jahren haben auch die Probleme begonnen. Sie fing an sich für Partys zu interessieren, was ihr Vater ihr jedoch untersagt hat. Als sie ausgehen wollte, hat er sich in die Tür gestellt und ihr den Weg versperrt. „Ich habe ihn jedoch einfach weggeschubst.“ Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Vater und Tochter diesbezüglich. Claudia hat angefangen Geld von ihrem Vater zu klauen, um den Eintritt für die Partys zahlen zu können. In dieser Zeit hat ihr Vater aufgehört zu trinken, um sie daran hindern zu können raus zu gehen und vernünftig mit ihr zu sprechen. Es blieb ihm jedoch nichts anderes übrig als es zu akzeptieren. Sie hat ihm ihre Freunde vorgestellt, mit denen sie immer losgezogen ist. Diese hat er gebeten auf seine Tochter aufzupassen und daher wurde sie auch immer von ihnen nach Hause begleitet. Von diesem Zeitpunkt an, hat man in ihrer Wohngegend angefangen schlecht über sie zu reden, weil sie mit diversen Jungs unterwegs war, was sich für ein Mädchen und dazu noch in ihrem Alter einfach nicht gehört. „Mein Vater hat sehr darunter gelitten und hat wieder angefangen zu trinken und zwar noch mehr als zuvor. Es hat mich jedoch nicht besonders interessiert, da mir meine Freunde zu dieser Zeit wichtiger waren.“ Der Vermieter des Hauses hat nachts die Tür abgeschlossen, so dass sie nicht mehr zu Hause reinkam, also war sie gezwungen bei ihren Freunden zu schlafen.
Wie viele andere Mädchen, hat auch sie in diesem Alter besonders auf ihr Aussehen geachtet. Um sich schöne Kleidung leisten zu können, hat sie angefangen auf der „cancha“ zu arbeiten. Kinderarbeit stellt einen Risikofaktor dar von der „Straße“ angezogen zu werden. Es ergeben sich diverse Möglichkeiten bereits in jungem Alter mit Straßenkindern in Kontakt zu kommen (Marquez, 2011).
So auch im Falle von Claudia, die durch ihre Arbeite erste soziale Kontakte mit Straßenkindern knüpfte, die Klebstoff inhalierten. Durch ihr selbstverdientes Geld wurde sie zunehmend unabhängiger von ihrem Vater.

Kinderarbeit
Mit der Armut der Familien hängt die weltweit verbreitete Praxis der Kinderarbeit zusammen, die die Nachwachsenden ihres Rechts auf Selbstbestimmung und Bildung beraubt. Häufig nimmt Kinderarbeit ausbeuterische und sklavenähnliche Formen an. Die Einkünfte aus Kinderarbeit sollen ein Drittel der gesamten Familieneinkünfte ausmachen.
In Bolivien gibt es rund eine Million Kinderarbeiter. Sie verdienen im Schnitt nur halb so viel wie ein Erwachsener und besitzen kaum Rechte. Genau deshalb haben sich Tausende von ihnen im ganzen Land zu einer Gewerkschaft der Kinderarbeiter zusammengeschlossen. Die Gewerkschafter fordern einen fairen Lohn und kostenlose Krankenversicherung. Und, dass der Staat die Kinderarbeit nicht nur duldet, sondern legalisiert. "Wir haben zuletzt dafür gesorgt, dass die Regierung die Verfassung geändert hat. Seitdem ist Kinderarbeit nicht mehr verboten, sondern nur noch die Ausbeutung von uns Kindern", sagt ein Straßenkind.

Aufgrund von Claudias Bedürfnisses nach einem Jahr Pause erneut die Schule zu besuchen, hat sie ihre Geburtsurkunde gefälscht. Dies ist jedoch aufgeflogen und sie wurde von der Schule geschmissen. „Ich habe nur noch geweint und vor allem meinem Vater Vorwürfe gemacht.“ Weder sie noch ihr Vater wussten jedoch, wie man eine solche Urkunde beantragen konnte.
Mit 15 Jahren hat sie sich einer „pandilla“ angeschlossen.

"Pandillas" 
In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bildeten sich in den Armenvierteln Boliviens Jugendgruppen namens „pandillas“. Rasch breiteten sie sich aus und erlangten bald Bekanntheit in der Öffentlichkeit und Prestige unter den Jugendlichen. Ihre Mitglieder nennen sich „pandilleros“. Jede der „pandillas“ hat einen Anführer. Möchte man zum Beispiel mit jemandem aus der Gruppe sprechen, so muss erst der Anführer um Erlaubnis gefragt werden. Dies ist nicht unbedingt das älteste Mitglied der Bande, ganz im Gegenteil. Die Älteren tragen meistens Folgeschäden des Klebers, so dass sie kaum noch laufen können. Wie also sollen sie für die Gruppe sorgen, wenn sie weder stehlen noch arbeiten können?! In einer der Gruppen, die ich kennengelernt habe, gehörte der Anführer zu einem der jüngsten Mitglieder. Er war der Einzige, der nicht drogenabhängig, sondern nur aufgrund seiner Freunde der Bande zugehörig war. Zehntausende Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind aktive Mitglieder von Jugendbanden. Der Großteil der Bandenmitglieder ist zwischen 12 und 30 Jahre alt. Solidarität in der Gruppe, Zugehörigkeit zu einem familienähnlichen Netzwerk, Identität und Status sind für Jugendliche wichtige Gründe, sich einer Bande anzuschließen. Die Bandenbildung ist Teil der Überlebensstrategien Jugendlicher und junger Erwachsener, denen die Gesellschaften keine Zukunftsperspektiven bieten. Deren Handeln und Lebenssinn kreisen um Gewalt, Raub und Drogenkonsum. Die Minderjährigen müssen sich immer wieder mit Polizei und den Bewohnern der betreffenden Gebiete auseinandersetzen. Nahezu einhellig werden ihnen schlimmste Formen der Delinquenz und sozialer Dekadenz zugeschrieben, denen die Obrigkeiten angeblich zu Recht mit harter Hand begegnen. Auf den Terror der Jugendbanden reagieren die Staaten mit ihrer Gewalt. Sie verstärken die Polizeipräsenz in den Barrios, machen Razzien, Polizei und Militär führen Straßenkontrollen durch (Weber, 2010).

Als Claudia gemeinsam mit ihren Freunden der „pandilla“ auf eine Party ging, wurde sie während einer Razzia von der Polizei mitgenommen, da sie minderjährig war. Die Polzisten haben ihr Angst gemacht, dass sie weder Vater noch Familie wiedersehen würde. Ihr Vater, der sie abholen musste, wurde von der Polizei in Gewahrsam genommen. Er hat geweint und sie nur gefragt, warum sie das tue und dass so etwas kein Mädchen, nicht einmal ein Junge mache. Während ihr Vater im Gefängnis bleiben musste, ging sie nach Hause um zu schauen, womit sie ihn freikaufen konnte. Früher war es üblich einen Sack Zement als Strafe zu zahlen, aber weil sie diesen weder besaß, noch sich leisten konnte, hat sie ihren Vater mit ihrem Radio freigekauft. „Selbst da hat mein Vater mich nicht geschlagen, sondern mir nur gut zugeredet und mich darum gebeten, dass dies nicht noch einmal passiert. Ich hatte einen tollen Papa, habe es zu dem Zeitpunkt jedoch nicht verstanden.“
Kurz darauf wurden ihr Vater und sie aus der Wohnung geworfen, da er die Miete nicht mehr zahlen konnte.

Ausprägungen von Armut
Fast die Hälfte der Kinder der Erde - mehr als eine Milliarde - lebt in Armut. Die konkreten Folgen sind gravierend: 90 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind mangelernährt. 270 Millionen müssen ohne Gesundheitsfürsorge auskommen. 120 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule. Infolge von Armut sterben jährlich 10 Millionen Kinder an Unterernährung. 100 Millionen können keine Schule besuchen. 250 Millionen müssen arbeiten. 300 000 Minderjährige dienen freiwillig oder gezwungen als Soldaten in den Heeren von Staaten, Paramilitärs oder der Guerilla. 

Absolute Armut 
Nach einer Definition der Weltbank lebt eine Person in absoluter (extremer) Armut, wenn sie weniger als einen Dollar am Tag zur Verfügung hat. Weltweit sind 1,2 Milliarden Menschen von absoluter Armut betroffen. Absolute Armut trifft vor allem Obdachlose und Straßenkinder.

Relative Armut
Von relativer Armut spricht man im Blick auf Angehörige der Unterschicht in wohlhabenden Gesellschaften, wenn deren Einkommen unter der Hälfte des Durchschnittseinkommens liegt. Sie bedeutet eine Unterversorgung mit materiellen und immateriellen Gütern und schränkt die Lebens- und Entfaltungschancen einer Person ein. Relative Armut bedeutet also soziale Ungleichheit. Nach Kriterien der Europäischen Union ist arm, wer lediglich über 60 Prozent (oder weniger) des Durchschnittseinkommens verfügt.
Relative Armut heißt jedoch nicht nur geringes Einkommen. Sie bedeutet, dass der Betroffene seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann. Er ist in im Hinblick auf Wohnen, Gesundheit, Arbeit, Bildung und Kultur unterversorgt und kann die Chancen, die das gesellschaftliche Leben bietet, nicht wahrnehmen (Weber, 2010).

Der Auszug aus der Wohnung war der Grund, warum Claudia letztendlich auf die Straße kam. Ihr Vater hat zu der Zeit in einer „chicheria“ (eine Art Kneipe) Tische geputzt und konnte dort auch schlafen. „Ich wollte nicht mit, weil ich Angst vor all den Betrunkenen hatte.“ Da sie nicht wusste wohin, haben sie Freunde von der Straße in ein Hostal - „telo“ - mitgenommen, in dem alle möglichen Leute aufzufinden waren, wie Drogenabhängige und Alkoholiker. „Ich hatte unheimliche Angst, hatte jedoch keine andere Möglichkeit unterzukommen.“ Das Wohnen in einem „telo“ kommt dem Leben auf der Straße ziemlich nahe, außer dass man ein Dach über dem Kopf und seine eigene Matratze hat. Man schläft in Gemeinschaftsräumen. „An Schlafen ist jedoch kaum zu denken, da jeder damit beschäftigt ist Klebstoff zu inhalieren oder Alkohol zu konsumieren.“ Um seine Privatsphäre zu wahren, werden Stoffe aufgehängt, wie es auch die Straßenkinder tun. In dem „telo“ hat Claudia einige Jahre lang gelebt.
Das Schicksal nahm seinen Lauf als sie kurze Zeit später ihren ersten Freund Richard auf der „cancha“ kennenlernte, der 19 Jahre alt war und Kleber inhaliert hat. Als sie gemeinsam mit ihm und zwei weiteren Freunden ausgegangen ist, hat er es ausgenutzt, dass sie betrunken war und angefangen sie zu küssen. Ihre Freundin war auf einmal weg, so dass sie allein mit Richard da stand, den sie zu dem Zeitpunkt noch kaum kannte. Es war spät, so dass keine „trufis“ mehr fuhren und für ein Taxi hatte sie nicht ausreichend Geld. Aus Angst alleine auf der Straße zurückzubleiben ging sie mit ihm mit und verbrachte ihre erste Nacht mit ihm. Von da an hat Richard ihr versprochen, dass er sich um sie kümmern und auf sie aufpassen wird, wie es die Jungs von der Straße so oft tun.

Sexualität auf der Straße
Sexualität spielt eine wichtige Rolle auf der Straße. Die Straßenkinder sind früher reif als Kinder, die wohlbehütet zu Hause aufwachsen und haben somit eher Geschlechtsverkehr.
Auch „machismo“ ist ein großes Thema auf der Straße. Hatte ein Junge Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen, so gehört sie ihm. Da hat das Mädchen nicht viel zu sagen. Selbst wenn sie es nicht möchte, weiß der Junge sie zurechtzuweisen, sei es mit Gewalt, was auf der Straße nicht unüblich ist. Der einfachere Weg an Geschlechtsverkehr zu kommen ohne Gewalt anzuwenden, ist die Mädchen betrunken zu machen oder ihnen Drogen zu geben. Diesbezüglich gab es bereits mehrere Vorfälle, wie im Beispiel von Lurdes (14 Jahre alt). Sie hat niemanden an sich heran gelassen und somit anscheinend das Interesse der Jungs auf der Straße zunehmend geweckt. Sie haben sie betrunken gemacht und unter Drogen gesetzt. Anschließend haben sie 17 Jungs vergewaltigt. Erinnern konnte sie sich an nichts mehr, jedoch war ihr gesamter Genitalbereich wund. Lurdes ist im Alter von 17 Jahren an Aids gestorben. Der Ort an dem derartige Vergewaltigungen geschehen heißt „los sietes“ und befindet sich auf einem Hügel in der Nähe unseres Projektes. Jeder, der auf der Straße lebt, weiß dass man sich von dem Ort fernhalten sollte. Aber warum gibt es dennoch Mädchen, die mitgehen, wenn sie genau wissen was dort passiert? Die Antwort unseres Psychologen: „Sie suchen Schutz. Denn wenn jeder einmal Geschlechtsverkehr mit ihr hatte, gehört sie sozusagen zur Gruppe.“

Claudia war unsterblich in Richard verliebt, so dass sie sich als Zeichen ihrer Liebe ein Tattoo stechen lassen hat. Er jedoch hat sich nebenbei auch mit anderen Mädchen vergnügt. Im Alter von 17 Jahren hat Claudia Marcus (16) im „telo“ kennengelernt, von dem sie ungewollt schwanger wurde. Als sie wusste, dass sie schwanger ist, hat sie die Beziehung mit Richard beendet.

Kindermütter
Seit einigen Jahrzehnten zeigt sich weltweit ein erstaunliches soziales Phänomen: Es gibt immer mehr minderjährige Schwangere und jugendliche Mütter, während gleichzeitig das Bevölkerungswachstum zurückgeht. Dieser Umstand hängt gewiss damit zusammen, dass heute Jugendliche früher sexuell aktiv werden, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass eine kritische oder positive Einschätzung früher Schwangerschaften auch kulturell bedingt ist. Unter den ethnischen Minderheiten ist es nichts Ungewöhnliches, frühzeitig zu heiraten und sich bereits in jungen Jahren fortzupflanzen. Weltweit betrachtet ist aber auffällig, dass die meisten minderjährigen Schwangeren und jugendlichen Mütter in ländlichen Gebieten und in Familien aufwachsen, die unter Armut leiden. In Entwicklungsländern haben die meisten Kindermütter eine vergleichsweise geringere Schulbildung als ihre Altersgenossen, die erst später Nachwuchs bekommen. Minderjährige Mütter bekommen ihr erstes Kind meist, ehe sie eine Paarbindung oder Ehe eingehen. Immer mehr minderjährige Mütter leben allein, ohne festen Partner, und müssen ihre Kinder ohne dessen Hilfe aufziehen.
Häufig sind die Schwangerschaften Minderjähriger ungewollt. In Bolivien schätzt man die ungeplanten Schwangerschaften Minderjähriger auf bis zu 70 Prozent. Die Gründe dafür sind vor allem fehlendes Wissen um Sexualität und Fruchtbarkeit, mangelnde Information über Empfängnisverhütung, kein Zugang zu Verhütungsmitteln, kaum entwickeltes Bewusstsein von den Folgen und mangelnde Kommunikation zwischen den Partnern. Nicht selten gehen Schwangerschaften auf sexuellen Missbrauch zurück.
Auf junge Mädchen, die auf der Straße leben, treffen sämtliche Merkmale zu, die das Risiko früher und problematischer Schwangerschaft erhöhen: Armut, Gewalt, mangelnde Schulbildung, Lebenskrisen, Missbrauch, fehlende Aufklärung und unzureichende Gesundheitsfürsorge. 

Motive für und Folgen von frühen Schwangerschaften 
Nicht selten fallen die Schwangerschaften Minderjähriger mit kritischen Lebensereignissen zusammen - mit der Scheidung oder Trennung der Eltern, mit Schwierigkeiten in der Familie, mit dem Tod naher Verwandter, mit wirtschaftlichen Schicksalsschlägen. Dann kann sich bereits bei Jugendlichen der Wunsch regen, selbst ein Kind zu haben, das die eigene Befindlichkeit verbessert. Nicht selten ist der Alltag der Betroffenen von Gewalt, Alkoholmissbrauch und Vernachlässigung gekennzeichnet. Schwangerschaft und Mutterschaft erscheinen als Fluchtweg aus Konflikten und Krisen, ungeachtet der Tatsache, dass sie in neue Problemsituationen hineinführen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Töchter von minderjährigen Müttern ebenfalls bereits als Minderjährige Mütter werden, liegt bei 83 Prozent. Die Mutterschaft Minderjähriger erscheint vielen Betroffenen offenbar als Strategie, um ein Leben in Armut besser bewältigen zu können. Dabei verfolgen sie drei Ziele: 1. Sie wollen schneller einen Partner oder Ehemann bekommen und die Unterstützung und Fürsorge eines starken Mannes gewinnen. 2. Gleichzeitig hoffen sie, einen höheren Status, mehr Akzeptanz und ein besseres soziales Ansehen zu erreichen. 3. Sie wollen eine „richtige Familie" gründen und sind sich sicher, dadurch selbstbewusst, gestärkt und in emotionaler, ökonomischer und sozialer Hinsicht abgesichert leben zu können (Weber, Sor Sara Sierra, 2011).

Als sie ihren Sohn Jonathan bekam, hat sie sich gemeinsam mit Marcus ein Zimmer im „telo“ gemietet. Erst da hat sie Marcus richtig kennengelernt. Er war krankhaft eifersüchtig und hat Claudia wegen jeder Kleinigkeit geschlagen, so dass sie mehrmals versucht hat wegzulaufen. Er jedoch hat sie immer wieder auf der Straße aufsuchen können und sie daraufhin verprügelt. „Keiner konnte mir helfen, denn wenn sich meine Freundinnen eingemischt haben, hat er sie verprügelt, als wären sie seine eigenen. Erst zu dem Zeitpunkt habe ich erfahren, was es wirklich heißt Angst zu haben.“ Aufgrund der ständigen Schlägereien wurde das Jugendamt eingeschaltet, so dass ihnen ihr Kind im
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Alter von einem Jahr weggenommen wurde. Daraufhin hat Marcus mit Steinen auf Claudias Kopf eingeschlagen. Sie wurde schwer verletzt aufgefunden und ins Krankenhaus gebracht. Sie wäre ihren Verletzungen fast erlegen.
Gewalt unter Straßenkindern ist nichts Ungewöhnliches. Straßenkinder leiden oft an Missbrauch durch ihre eigenen Kameraden. Vor allem richtet sich diese Gewalt an die jüngsten Mitglieder der Gruppe, aber auf der anderen Seite erfahren sie wiederum Schutz (Marquez, 2011).
Ihr Kind wollte Claudia nicht mehr zurück. Zum einen weil sie noch jung war und das Leben ohne jegliche Verpflichtungen genießen wollte, zum anderen wollte sie Markus keinen Grund geben, sie weiterhin zu belästigen. Ihr gemeinsamer Sohn wäre ein solcher Grund gewesen. Claudia ist nicht mehr zurück ins „telo“, sondern auf die Straße gegangen, wo sie begonnen hat Kleber zu inhalieren. Ihr Alltag auf der Straße: „Ich habe den ganzen Tag geschlafen, denn das Schnüffeln macht dich müde. Ich konnte es mir jedoch nicht immer leisten.“ Eine Dose Klebstoff kostet um die 15-20Bs, was umgerechnet zwei Euro sind. Ein Drogenabhängiger konsumiert täglich um die drei Dosen. Viele der Straßenkinder sehen oft in der Prostitution den schnellsten Weg an Geld zu kommen. „Dies kam für mich jedoch nie in Frage“, so Claudia.

Kinderprostitution
Kinderhandel, Kinderpornografie und Kinderprostitution haben sich in zurückliegender Zeit weltweit ausgebreitet und sind zu riesigen Märkten mit enormen Gewinnspannen geworden. Nach Schätzungen von UNICEF werden jährlich Millionen von Mädchen und Jungen sexuell ausgebeutet.
Prostitution ist der Verkauf oder Kauf von sexuellen Handlungen, insbesondere von Geschlechtsverkehr. Die Akteure des Tauschgeschäfts sind neben der Prostituierten und dem Klienten im weiteren Sinne auch Zuhälter, Bordellbesitzer und die Sexindustrie. Prostitution von Erwachsenen tangiert die Frage der Menschenrechte und der Diskriminierung von Frauen. Die Prostitution von Kindern ist eindeutig und immer illegal. Neben Kinderpornografie und Kinderhandel zu sexuellen Zwecken bricht sie als kommerzielle sexuelle Ausbeutung die allgemeinen Rechte von Kindern (siehe UNO-Kinderrechtskonvention). Durch den wachsenden Sextourismus ist Kinderprostitution heute zu einem ausufernden Problem vor allem in armen Ländern geworden.
Armut, Prostitution und Menschenhandel hängen miteinander zusammen. Am häufigsten betroffen sind Familien mit Kindern, in denen die Mütter den Haushaltsvorstand stellen. Von dort kommen die meisten Straßenkinder und Kinderprostituierten. Die sexuelle Ausbeutung von Kindern hat viele Gesichter: Pornografie, Menschenhandel, Straßenstrich, Sextourismus. Dort wo der Fremdenverkehr blüht, trifft man häufig junge Frauen und Kinder, die im Kontakt mit Fremden ein Auskommen suchen, indem sie Drogen und sich selbst verkaufen (Weber, 2010).
Auch in Cochabamba findet man zunehmend mehr junge Mädchen an, die ihren Körper auf der Straße anbieten. Vor allem die Zahl der Mädchen ist gestiegen, die abends die Schule besuchen und sich im Anschluss etwas dazu verdienen möchten und anscheinend in der Prostitution ein lukratives Geschäft gefunden haben. Aufgrund der wachsenden Zahl planen wir im „Proyecto Mujer“ Präventionsarbeit an den Schulen durchzuführen.

Was der Kleber mit einem macht? Er lässt Hunger und Kälte vergessen. „Zu Beginn des Konsums bekommt man unheimliche Kopfschmerzen. Man gewöhnt sich jedoch daran und danach tut es nicht mehr weh.“ Für die Drogenabhängigen ist es ein anziehender Geruch, was für jemanden, der noch nie geschnüffelt hat schwer zu verstehen ist. Man kann den Geruch bereits von weiter weg riechen, so intensiv ist dieser. „Schnüffeln ist eine Gewohnheitssache. Hörst du auf damit, fängst du an dich zu langweilen und weißt nichts mehr mit deiner Zeit anzufangen. Wie jeder Mensch die Luft zum Atmen braucht um überleben zu können, brauchen die Drogenabhängigen ihren Kleber.“

Der Klebstoff
Das Inhalieren von Klebstoff ist in Bolivien gesetzmäßig verboten. Dennoch wissen alle, dass es in der Stadt mehr als 20 Treffpunkte gibt „öffentlich und sichtbar“, an denen es Kindern und Jugendlichen „gestattet“ wird, diese furchtbare Droge zu konsumieren.

Was ist Klebstoff?
Klebstoff ist eine chemische Zusammensetzung, die sehr giftig ist. Er besteht aus den Hauptkomponenten, die sich unter anderem in Kraftstoff und Lösungsmitteln für Farbe befinden.

Konsequenzen des Konsums
Der Konsum macht abhängig und zerstört in erster Linie das zentrale Nervensystem, so dass die meisten Drogenabhängigen nicht älter als 30 Jahre alt werden. Er beeinflusst die kognitiven Fähigkeiten, sowie das Sehen und Hören. Außerdem werden Herz, Leber, Lunge und Nieren beschädigt. Das Inhalieren verursacht starke Kopfschmerzen, die darauf zurückzuführen sind, dass allmählich das Nervensystem beschädigt wird, vor allem der Teil, der für die Koordination der Bewegung zuständig ist. Die „inhaladores de clefa“ sprechen aufgrund der Folgen des Konsums oft viel langsamer und ihre Bewegungen sind unkoordinierter. Gravierend ist deren Verantwortungslosigkeit, vor allem wenn sie Kinder haben.

Welche Wirkung hat Klebstoff?
Der Klebstoff wird entweder durch die Nase oder den Mund inhaliert. Nach mehr als drei Sekunden des Inhalierens fühlt es sich an, als würde man nicht atmen können. Nach kurzer Zeit füllen sich die Lungen wieder mit Luft. In diesem Moment – wenn es das erste Mal des Konsumierens ist – kommen schreckliche Kopfschmerzen auf. Die Drogenabhängigen sagen, dass man diesen Schmerz nur fühlt, wenn man nicht daran gewöhnt ist zu inhalieren. Anschließend kommt es zu einem heftigen Gefühl von Schwindel und zur zeitweisen Desorientierung. Die Wahrnehmung der Umwelt verlangsamt sich extrem, begleitend von einem Hitzeempfinden und einem Gefühl von Euphorie, das zwischen einigen Sekunden bis zu einigen Minuten andauern kann. Um diesen Zustand aufrechtzuerhalten, müssen die „inhaladores de clefa“ ca. alle drei Minuten inhalieren, so dass man sie ständig mit dem Kleber im Gesicht sieht. Zur Freisetzung der Gase, rühren sie den Kleber nach einiger Zeit mit dem Finger in der Dose um. Die Konsumenten berichten, dass nach einem Gefühl der Hitze, anschließende Müdigkeit, Verwirrtheit und Schwindel aufkommen. Man verliert sein Feingefühl und in einigen Fällen das Bewusstsein. Dieser Effekt kann einige Stunden andauern, bis der Konsument zwangsläufig einschläft. Wenn die Drogenabhängigen im Rausch sind, was als „fliegen“ bezeichnet wird, halten sie sich für „unsterblich“. Es scheint als seien sie dann an einem anderen Ort, so dass sie weniger zurechnungsfähig wirken.
Der Klebstoff lässt außerdem Hunger und Durst vergessen, so dass es auch einige Mütter gibt, die ihre Kinder inhalieren lassen, wenn sie aufgrund von Hunger schreien.
Eines der schlimmsten Folgen des Konsums ist der Zerfall der Familie und die Verwahrlosung der Kinder und Jugendlichen auf der Straße.
Für den Erwerb dieses Produktes, das für Holzarbeiten und ähnliches verwendet wird, müssen die Betriebsstätten sowohl dessen Zweck und Gebrauch als auch den Ausweis des Käufers einfordern. Dies fordert zumindest das Gesetz. Aber wo es Gesetze gibt, werden sie auch gebrochen (Marquez, 2011).

Claudia ist jedoch nicht nur bei dem Klebstoff geblieben, sondern ist auf den Geschmack von Marihuana und Kokain gekommen. „Kokain lässt dich alles vergessen und verlieren. Ich habe mich selbst darin verloren.“ Wie sie dazu gekommen ist? „Ich habe es bei anderen gesehen, den Stoff geklaut und selbst experimentiert.“ Zu dieser Zeit hatte sie noch ab und Kontakt zu ihrem Vater. Er hat mittlerweile als Wächter auf Häuser aufgepasst. Claudia hat dies ausgenutzt und dort Geld oder andere wertvolle Gegenstände geklaut, um sich ihre Drogen finanzieren zu können. „Kokain ist teuer. Um dich einen Tag lang mit Kokain versorgen zu können, brauchst du mindestens 200 Bolivianos.“
Insgesamt hat Claudia drei Jahre lang Kokain konsumiert. Über dieses Thema redet sie jedoch nicht gerne, da sie in ihrer neuen Umgebung nicht mit Drogen in Verbindung gebracht werden möchte.
Kurze Zeit später ist Claudias Vater an den Folgen der jahrelangen Minenarbeit gestorben. Sie ist nicht zur Beerdigung gegangen, da sie Angst hatte für ihre Diebstähle verantwortlich gemacht zu werden.
Auf der Straße bekommt jeder eine neue Identität, d.h. unter anderem einen Spitznamen. Der Name hängt oft vom äußeren Erscheinungsbild ab. Claudia wurde entweder „choca“ aufgrund ihrer helleren Haare oder „china“ aufgrund der Form ihrer Augen genannt.
Umso länger man auf der Straße lebt, desto mehr wird der Zusammenhang mit der eigenen Familie zerstört. Der ursprüngliche Name geht irgendwann völlig verloren und man ist nur noch unter seinem Spitznamen bei anderen bekannt (Marquez, 2011).
Claudia hat nicht nur auf der Straße gelebt, sondern auch in diversen Frauenhäusern. Dort lebte sie jedoch nur für kurze Zeit, da sie sich nicht an die Regeln gewöhnen konnte.
Die meisten Straßenkinder haben an fast allen möglichen Programmen der Projekte teilgenommen oder in diversen Zentren gelebt. Dies jedoch nur aus dem Grund, um einige ihrer Bedürfnisse befriedigen zu können, nicht aber um rehabilitiert oder in ihre Familie wiedereingegliedert zu werden.
In Cochabamba gibt es ca. 40 Projekte, die sich mit Straßenkindern befassen (Marquez, 2011).
Um auf der Straße überleben zu können, gibt es diverse Möglichkeiten. „Es ist einfach auf der Straße an Geld zu kommen.“ Claudia hat zum Beispiel Kleber verkauft, um sich von dem Geld Kleidung kaufen zu können. Auch hat sie Flaschen aus Mülleimern zusammengesammelt und diese verkauft. Von dem Geld hat sie sich ihren Klebstoff finanzieren können. Eine weitere Möglichkeit sich über Wasser zu halten ist das Klauen. „Manchmal hatte ich 500Bs am Tag, manchmal jedoch gerade genug, um mir etwas zu essen leisten zu können.“ Sie wurde dabei nicht nur einmal in Gewahrsam der Polizei genommen. Als sie jedoch noch ihren Sohn hatte, konnte sie nicht klauen gehen und hat daher Fensterscheiben von Autos geputzt. In zwei Stunden verdient man ca. 30Bs. Als Mann ungefähr 1Bs pro Auto, als Frau 2Bs. „Wenn die Leute sahen, dass ich ein Kind habe, haben sie mir 5-10Bs gegeben.“ Davon hat sie Essen und Windeln für ihr Kind kaufen können.
Was ihr an dem Leben auf der Straße gefallen hat? „Keiner sagt dir was du zu tun hast. Du hast keinerlei Verpflichtungen und deine Freunde lassen dich alles vergessen. Wenn du nichts zu essen hast, gehst du betteln.“ Als sie auf der Straße gelebt hat, hatte sie das Gefühl alles richtig zu machen, was sie erst jetzt durch ihren Lebenswandel anders sieht. Es gibt jedoch nicht nur Vorteile, wenn man auf der Straße lebt. „Auf der Straße suchen dich die Probleme. Es gibt ständig Gerüchte, Eifersüchteleien, Prügeleien bis hin zu Mord.“

Bedeutung der Straße als sozialer Raum
Für obdachlose Kinder und Jugendliche wird die Straße zum "primären Sozialisationsraum" (Butterwegge 2004, S. 128). Dort verrichten sie ihre alltäglichen Bedürfnisse wie z.B. Körperpflege, Ernährung, Sexualität. Auf ihren täglichen Streifzügen durch die Stadt entwickeln und markieren sie ihre Routen.
Die Straße ist ein Ort der Zuflucht, ja der Geborgenheit, wenn andere Möglichkeiten unterbunden oder verstellt sind. Er ist ein Ort der Aufregung, des Abwechslungsreichtums, der Eindrucksvielfalt, des Kontakts, des Gelderwerbs, des Geldverlierens, ein Ort der sozialen Kälte, wie aber auch einer stets brüchigen sozialen Nähe und der Erfahrung, wenigstens für eine gewisse Zeit eine soziale Zugehörigkeit zu besitzen, die "für alle" sichtbar ist; und er ist zugleich ein Ort, an dem man sich rasch unsichtbar machen kann, um in der Anonymität unterzutauchen, ein Ort des Handeln-Könnens, aber auch ein Ort, an dem man selbst das Ziel von Handlungsstrategien ist, sei es Ziel rivalisierender Jugendgruppen, das Ziel von Ordnungskräften, sei es von Streetworkern.

Ambivalenz des Lebens auf der Straße
Getrieben von zerrütteten familiären Verhältnissen locken die Freiheit und die neuen Möglichkeiten der Straße. Aber das Leben auf der Straße ist hart und bedeutet, unter größten Schwierigkeiten zu überleben. Die Straße ist "ein geschlossenes Universum", von innen nicht zu durchbrechen, von außen betrachtet unbegreiflich. Beziehungen zwischen den Kindern und Jugendlichen und der Außenwelt gibt es nur selten, meist zugespitzt auf Übergriff und Abwehr. Sie kennen lediglich ihresgleichen, Leidensgenossen mit denselben Schwierigkeiten und Einschränkungen. Darüber hinaus gibt es kaum jemanden, der mit ihnen spricht oder sie gar unterstützen könnte. Gefangen in derselben Tretmühle eines von Gewalt gekennzeichneten Alltags, schweißt sie ihr Schicksal zusammen und liefert sie dem abschätzigen, oft feindlichen Blick ihrer wohlhabenderen Zeitgenossen aus, die ihnen alle Schandtaten der Welt anlasten oder zumindest zutrauen" (Weber / Sierra Jaramillo 2006, S.43). Die Straße bedeutet Obdachlosigkeit, Hunger, Kälte, Ungewissheit, Konsum von Drogen und das Risiko, jederzeit von anderen angegriffen zu werden. Nicht zuletzt ist die Gefahr des Todes immer präsent.

Wie Claudia die Polizei erlebt hat? „Sie sagten ich solle wie ein Hund sterben, da ich zu nichts mehr zu gebrauchen sei. Wenn du nicht tust, was sie verlangen, beschimpfen und schlagen sie dich mit Stöcken – egal ob Frau oder Kind. In Bolivien neigt die Polizei sehr schnell dazu auch Rauchgas einzusetzen. „Das ist furchtbar, du kannst nicht atmen und es tut unglaublich weh.“
„Oft bringen sie dich hoch zum Cristo, schmeißen dort deine Schuhe in die Kakteen, damit du sie dir barfuß wiederholen musst. Du tust dir überall weh, um sie zu suchen.“ Einer schwangeren Freundin von Claudia haben die Polizisten in den Bauch getreten, so dass sie ihr Baby verloren hat. Sie hat den Polizisten daraufhin angezeigt. Die Konsequenzen? Sie haben ihm einen Stern abgenommen. Warum die Straßenkinder dies immer wieder über sich ergehen lassen? „Wenn du auf Drogen bist, fühlst du keinen Schmerz. Man vergisst alles, aber du wirst immer wieder daran erinnert, wenn du dir die Narben auf deinem Körper anschaust.“
Mit 22 Jahren bekam Claudia ihren zweiten Sohn mit ihrem neuen Lebenspartner Luis. Gemeinsam mit ihm hat sie auf der „plaza“ gelebt. Dort haben sie sich eine „Hütte“ zum größten Teil aus Müll gebaut. Beide haben ähnliches erlebt und sich somit gegenseitig unterstützt. „Während meiner Schwangerschaft habe ich angefangen mich zu langweilen und habe wieder Kokain konsumiert. Als mein Bauch jedoch gewachsen ist, habe ich aufgehört, da ich mich geschämt habe.“ Als sie ihren kleinen Sohn gestillt hat, hat sie trotz dessen erneut Drogen konsumiert. Warum? Zum einen weil es günstiger ist zu stillen und zum anderen, weil sie nicht wusste, dass ihr Sohn so auch indirekt in Kontakt mit den Drogen kommt. Claudia hat sich auch in ihrer Beziehung angefangen zu langweilen, so dass sich Luis eine neue Partnerin gesucht hat.
Im Alter von einem Jahr wurde ihr auch ihr zweiter Sohn weggenommen. „Bis zu dem Zeitpunkt habe ich nachts Kokain konsumiert.“ Claudia sagt ihr Sohn sei aus seinem Kinderwagen gefallen und hatte daher seine Wunden und blaue Flecken im Gesicht. Als die Polizei dies bei ihren Kontrollen auf der Straße gesehen hat, haben sie ihn mitgenommen und die Mutter, die zu dem Zeitpunkt auch noch alkoholisiert war, in Gewahrsam gebracht. Daraufhin gab es einen Artikel auf der Titelseite einer Zeitung „Mutter versucht ihren Sohn durch Würgen umzubringen“. Als ein Arzt nämlich den Kleinen untersucht hat, meinte er, er hätte Würgehämatome. Claudia jedoch streitet alles ab. Sie wartet nun auf ihren Prozess.
Heute arbeitet Claudia in der Küche und hat dort in ihrer Arbeitsstelle auch ein kleines Zimmer für sich. Außerdem hat sie sich ihren eigenen kleinen Stand aufgebaut und verkauft Schreibartikel für Kinder. Eines Tages könnte sie sich vorstellen ihr eigenes kleines Geschäft zu haben, da sie Spaß am Verkaufen hat. Mit Drogen möchte sie nichts mehr zu tun haben, denn sie sagt selber „Wie soll ich denn etwas verkaufen, wenn ich Kleber schnüffle?“ Auf meine Frage hin, wie man so „leicht“ von den Drogen wegkommt, sagte Claudia: „Wenn du die Droge weder siehst noch riechst, willst du sie auch nicht.“ Der Grund für ihren Wandel: „Mein Sohn. Ich möchte meinen Sohn wiederhaben.“ Sie möchte nach vorne schauen und ihrem Sohn ein schönes Leben ermöglichen. „Manchmal macht mich das Leben müde, wie jeden anderen auch, der tagtäglich arbeitet. Jedoch vermisse ich nichts von dem Leben auf der Straße, was denn auch, wenn ich dort keinen Mann habe. Ich möchte nur mein eigenes Bett, einen Fernseher und Umarmungen meines Sohnes, wenn er von der Schule nach Hause kommt.“

Schlussfolgerung

Und das Fazit der Geschicht – Wunder gibt es doch!? Es fällt mir noch wirklich schwer zu glauben, dass Claudia von einem Tag auf den anderen von den Drogen wegkommen konnte. Schließlich hat sie jahrelang Kleber geschnüffelt gemischt mit Kokain, Marihuana und Alkohol, vor allem Kokain und Kleber machen sehr schnell abhängig und irgendwann braucht der Körper diese Droge einfach. Ist ihr Wunsch ihren Sohn wiederzusehen so groß, dass sie daraus die Kraft schöpft, die Drogen zu vergessen? Was mir Sorgen bereitet ist - was ist wenn sie ihren Sohn nicht wiederbekommt? Schließlich werden ihr schwerwiegende Vorwürfe diesbezüglich gemacht. Ein weiterer Gedanke ist - wie lang hält sie es noch aus nur für die Arbeit zu leben? Denn im Moment hat sie kaum ein soziales Leben. Claudias „Hochs“ und „Tiefs“ sind sehr extrem. Die Frage ist wann ein nächstes „Tief“ aufkommt und wie sie damit umgeht. Ich denke diesbezüglich ist psychologische Arbeit unbedingt notwendig und ich hoffe unsere Psychologen können sie insoweit unterstützen, dass sie ihre „Tiefs“ meistern werden kann. Liebling, du bist mein Stern, du bringst Leuchten in mein Leben. Deine Anwesenheit spüre ich von fern, mit dir zu sein ist, was ich möchte. Ich hoffe, dass dieser Wunsch von Claudia ihr genügend Kraft gibt durchzuhalten und wünsche ihr, dass sie eines Tages die Möglichkeit hat, ihren Sohn umarmen zu können, wenn er von der Schule nach Hause kommt.

Impressionen
 Der Alltag auf den „plazas“ Cochabambas


 „Aufräumaktionen“ vonseiten der Polizei





 „pawichi“ – improvisiertes Haus, hauptsächlich aus Müll gemacht

Viele schlafen im Freien auf Pappkartons 

Straßenkämpfe lassen nicht nur Narben auf der Haut zurück